Review
Bruce Dickinson - Anthology (DVD)
VÖ: 16. Juni 2006
Zeit: ca. 360 Min.
Label: Sanctuary Records
Homepage: www.screamforme.com
Holla, was für ein Paket. Da kann man einfach nur noch in Demut niederknien. Auf gleich drei DVDs (drei!!!) präsentiert Bruce Dickinson hier einen Querschnitt durch sein Gesamtwerk auf Solopfaden, das mittlerweile ja 16 Jahre umspannt.
Seine Karriere war dabei alles andere als geradlinig, von einem reinen Spaßprojekt über den künstlerischen Selbstfindungstrip bis hin zu dem herausragenden Kanon, den er mit seinen letzten drei Studioalben zu Wege gebracht hat. Wer sich auch nur ansatzweise für dieses Schaffen interessiert, dem wird hier das Wasser im Munde zusammenlaufen: es gibt Live-Mitschnitte aus der Anfangsphase 1990, aus den Skunkworks-Wirrungen 1996 und, das Herz lacht, auch einige Tracks der gefeierten Chemical Wedding-Tour von 1999. Dazu noch jede Menge Bonus-Material, das den Namen auch wirklich verdient - nämlich ein fast 60minütiges Interview anlässlich der Veröffentlichung von Tyranny Of Souls sowie alle Videos, die unser Bruce jemals gedreht hat, und sogar das bizarre 15minütige Werk "Biceps Of Steel" von Samson, der Kombo, in der Bruce sein Unwesen trieb, bevor ihn ein gewisser Steve Harris aufgabelte.
Also einfach Schluss und volle Punktzahl? Immer der Reihe nach - schauen wir uns die Sachen mal gründlich an.
DVD 1: Dive Dive Live! Wer wie ich mehr oder weniger fanatischer Maiden-Anhänger ist, der war ob des ersten Solo-Werkes von Bruce Dickinson schon etwas verwirrt, um nicht zu sagen enttäuscht. Man erinnere sich: Maiden hatten damals mit Seventh Son Of A Seventh Son ihr bis dahin ambitioniertestes Album abgeliefert, das sich in Experimenten und progressiven Düsterkeiten erging - und gerade deshalb heute auch nicht zu den Scheiben gehört, die oft im Player rotieren. Damals war das alles aber die beste Erfindung seit geschnittenem Brot, und da kam Bruce und machte ein stinkeinfaches Rock'n'Roll-Album. Dreckig, geradeaus, simpel, mit einigen guten und einigen weniger guten Tracks. Was war denn das? Und auf der Tattooed Millionaire-Tour trieb er dann auch noch sein entsprechendes Unwesen in diversen Clubs, darunter dem Town and Country Club Los Angeles, in dem am 14. August 1990 dieser Gig mitgeschnitten wurde.
Einen größeren Kontrast zur Maiden-Show während der Monsters Of Rock 1988 kann man sich kaum vorstellen: hier eine Riesen-Eis-Kulisse, in der das Programm dargeboten wurde, mit einem Dickinson, der zwar wie immer den Derwisch gab, aber mehr als einmal den Eindruck vermittelte, dass sein Herz nicht mehr an dieser Sache hing. Maiden klangen irgendwie müde. Und dort vier unrasierte Typen, die auf kleinstem Raum eine schweißtreibende Show abzogen, als sei es 1980. Man stürmt ohne Brimborium die Bühne, Showeffekte gibt's keine, einfach eins zwei drauf.
Den Einstieg gibt "Riding With The Angels", ein alter Samson-Track, und von Anfang an ist klar: Dickinson wollte einen bewussten Kontrapunkt setzen zur technisch perfekten Maiden-Inszenierung, die zwar atemberaubend, aber in diesen Jahren irgendwie etwas seelenlos geworden war. Der Reigen geht dann auch ganz bewusst ohne Maiden-Stücke weiter, es gibt mehr oder weniger das gesamte Debüt-Album zu bestaunen, von "Born in '58" (diverse Gitarrenschnitzer - live eben), "Dive Dive Dive" (Komplettausfall des Mikros, schräge Vocals - s.o.) und natürlich der feine Titeltrack. Die technischen Unzulänglichkeiten machen das Ganze nur um so sympathischer, zumal Bild und Sound der damaligen Videoaufzeichnung überraschend gut ins digitale Format transferiert wurden.
Zwischendurch parliert Bruce ausgiebig mit den Schlachtenbummlern, liest den Amis aufgrund ihres Waffenwahns gehörig die Leviten, macht sich über die LA-Szene, die damals mit Guns'n'Roses und W.A.S.P. Großes zu bieten hatte, lustig, und erzählt interessante Hintergründe. So etwa bei "All The Young Dudes", das ja immerhin eine Single war - der Song sei mindestens 20 Jahre alt, stamme von Alice Cooper, und erinnere ihn an die Zeit, in der er als 13jähriger an der Tankstelle jobbte, so berichtet der Meister.
Nach der kurzen Pause vor den Zugaben macht er uns den John Cleese aus Fawlty Towers ("waky waky!") und erzählt die wohl schönste Geschichte: der Spießgeselle an der Gitarre stamme aus Newcastle, das sei bekannt für das braune Bier, und das werde ja bekanntlich nicht gebraut, sondern direkt dem Fluss Tyne entnommen (kann ich bestätigen - bei Newky Brown bleibt kein Auge trocken). Deshalb spielen sie uns rein akustisch das Traditional "Fog On The Tyne", das auf jedem Dubliners-Album eine gute Figur machen würde und auch hier Spaß bringt. Wunderbar - der beste Moment.
Fazit also: in der Rückschau versteht man, was Dickinson im Kopf herumging, und warum er letztlich bei Maiden ausstieg. Der direkte Kontakt, das Raue, Ungehobelte war ihm verloren gegangen, und das gab es hier in Mengen. Bewusster Gitarrist ist natürlich Janick Gers, der schon hier seine Kaspereien aufführt, die er bis zum heutigen Tag ja auch bei Maiden auf die Bretter wirft. Sound und Bild sind gut, die Spieldauer mit 90 Minuten wohl komplett. Feine Sache.
Skunkworks Live: Nachdem Bruce mit Balls To Picasso ein Übergangswerk geschaffen hatte, das ihm selbst nicht so recht zusagte (dazu später mehr), versuchte er sich in einer Band zu verstecken, die nicht seinen Namen trug und nicht nur wegen ihm erfolgreich war. Zu dieser Zeit Mitte der 90er wollte er offensichtlich so weit weg vom Metal wie möglich - er hatte Maiden verlassen, die ohne ihn ihre zwei schwächsten Alben herausbrachten, ging seit geschätzten zwanzig Jahren wieder mal zum Friseur, legte sich eine idiotische Herbert Grönemeyer-Frisur zu - und er kreierte Skunkworks. Zur Promotion des gleichnamigen Albums sollte eine Video-EP in Japan herauskommen, wozu die Band 1996 zwei Konzerte in Spanien mitschnitt. Das hier zu bestaunende Ergebnis ist - sagen wir mal interessant.
Die Musiker, die Bruce an Bord hatte, sind zweifelsohne Könner ihres Fachs. Stil und Habitus der Darbietung sind fast schon manisch anti-Metal: geboten wird Alternative Rock, gemischt mit Grunge, und das in dem Look, den man damals halt so hatte. Die Nummern des Skunkworks-Albums, wie etwa "Space Race", "Back From The Edge" oder "Inertia", sind in jedem Falle hörenswert, da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber Bruce selbst wirkt deplatziert, so, also ob er meint, etwas tun zu müssen, das er aber irgendwo gar nicht tun will. Kontakt zum Publikum findet so gut wie nicht statt, weg sind die flotten Sprüche, die wir noch bei Dive Dive erleben durften. Das wirkt gelangweilt, Malen nach Zahlen. Nein, selbst seine bis zu diesem Zeitpunkt wohl beste Solo-Nummer "Tears Of The Dragon" zelebriert er nicht, sondern schießt lieber Seifenblasen in die Menge, obwohl der Song musikalisch gut rüberkommt. Dass seine Kombo die wirklich Metal-lastigen Stücke aber nicht bringt, wird überdeutlich, als sie sich am Maiden-Klassiker "The Prisoner" versuchen und die so charakteristischen Melodie-Läufe einfach plattmachen - und ein Solo einbauen, das weniger nach Dave Murray als nach Kurt Cobain klingt.
Einen ganz wichtigen Pluspunkt hat die Sache allerdings doch: die zu Maiden-Zeiten teilweise doch arg gebeutelte Stimme ist wieder da und verleiht den Songs trotz allem ein unverkennbares Flair.
Was sagt man also dazu? Ein wichtiges Dokument der Solo-Karriere, ein unverzichtbares sogar. Denn wenn es das ist, was Dickinson tun musste, um wieder zum Metal zurückzukehren, dann musste das wohl so sein. Er selbst stellte sich damit allerdings eine Zeitlang ins Abseits, "keiner interessierte sich mehr dafür, was ich musikalisch machte", so erzählt er in den Liner Notes zu seinem Best Of Album. Passender könnten die Zeilen aus dem Folgewerk Accident Of Birth also wohl kaum sein: "Welcome home - it's been too long, we've missed you."
DVD 2: Scream for me Brazil. Mit besonders großen Erwartungen legt man diese Scheibe in den Player. Immerhin gehört die gleichnamige Live-CD zum Besten, was Dickinson vorgelegt hat - unterstützt von Haus und Hof-Songschreiber Roy Z. und vor allem auch dem alten Maiden-Kollegen Adrian Smith, brettert uns der Meister hier die Highlights des brillanten Chemical Wedding um die aufgestellten Ohren, garniert mit Juwelen aus den restlichen Werken. Ungetrübtes Vergnügen sollte einen erwarten.
Groß ist dann aber der Schreck, als das Spektakel beginnt: das Bild ist ja noch einigermaßen ok, aber immer zu dunkel - und der Sound ist jämmerlich - bestenfalls auf Bootleg-Niveau bewegt man sich hier. Die Gitarren sind viel zu leise und gehen komplett unter. Was ist denn da los? Kurzer Blick ins Booklet: aha, das war eigentlich nie zur Veröffentlichung gedacht. Um dennoch den für Fans wohl attraktivsten Abschnitt der Karriere nicht auszulassen, hat man vom besagten Konzert im Sao Paulo kurzerhand die Video-Leinwand-Aufnahmen herangezogen. Soll man nur hier die gute Absicht loben oder die Ausführung verdammen? Ich jedenfalls war verdammt enttäuscht, dass man von diesem grandiosen Gig nur eine so bescheidene Version zu Ohren bekommt.
Der miese Sound verdirbt denn auch eins ums andere Mal die helle Freude an Krachern wie "King In Crimson", "The Tower" oder "Book Of Thel". Seltsamerweise fehlt mit "Chemical Wedding" der zentrale Song - vielleicht war der Sound hier so unterirdisch, dass man verzichtete.
Immerhin taugt das Teil als Kontrast zur Skunkworks-Phase, denn Bruce ist hier wieder vollem Metal-Modus zu bestaunen. Er macht uns die Rampensau, dass es raucht. Bei "Laughing In The Hiding Bush" kann man den Unterschied am Besten beobachten: nix mehr Alternative und Kunst-Kram, hier wird auf den Putz gedroschen. Dass er ein geborener Ententrainer ist, zeigt Bruce beim Mitsingteil, den er wie ein Stand-Up-Comedian aufzieht, die Meute dabei aber immer im Griff hat. Roy Z. ist ohnehin die coole Socke schlechthin, und Adrian Smith endlich wieder auf der Bühne zu sehen, war 1999 eine echte Sensation.
Naja, sei's drum. Wie sagt man so schön: besser als nix.
DVD 3: Promotional Videos 1990-2005/Extras. Ab nun kann die Kollektion wirklich punkten, denn hier findet der Geneigte Zuschauer alles, was er schon immer über Bruce wissen wollte, aber nie zu fragen wagte. Von der kompletten Sammlung aller Videos (von "Tattooed Millionaire" über die von Bruce selbst inszenierten Filmchen wie z.B. "Accident Of Birth" bis hin zum aktuellen "Abduction") hangeln wir uns zu einem fast einstündigen Interview, in dem wir jede Menge über Dickinsons Arbeitsweise, Einstellung zur Musik und mehr oder weniger vieles über Gott und die Welt erfahren.
Hier liegt der aus meiner Sicht beste Teil der DVD: hier blickt eine Ikone auf ein Lebenswerk und parliert dabei ebenso locker wie unterhaltsam. So etwa, dass er das komplette Balls To Picasso-Album in den Müll warf und mit Roy Z. noch mal neu einspielte. Oder, dass Mitte der 90er zwar jede Menge Härte in der Musik war, darüber aber leider die Melodien verloren gegangen waren (ja! ja!!). Oder, dass es ohne Chemical Wedding das Maiden-Reunion-Album Brave New World nie gegeben hätte. Und, dass man einfach nur Prioritäten setzen muss, wenn man wie Dickinson Pilot, Fechter, Radiomoderator und auch noch Metal-Sänger sein möchte. Ah ja, dann mach ich das jetzt auch.
Als schönes Kuriosum gibt's noch das 15minütige Kabinettstückchen "Biceps Of Steel", das Bruce 1980 als Fronter von Samson im Rainbow Theatre zeigt. Wirklich selten - und eher bizarr.
Also? Ohne die DVD 3 mit den Extras müsste man hier massiven Punktabzug geltend machen. Aber die Extras reißen den Gesamteindruck definitiv über die Messlatte. Ja, was hilft es denn. Wie sagt der Erwin Pelzig: musst käff.
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