Review
Xandria - India
Film zurück: November 2004, kurz vor ihrem Auftritt in München. Nils und Lisa erklären mir, was der geneigte Hörer von der nächsten Xandria-Scheibe erwarten darf: "Von dem, was ich bisher gehört habe, könnte es ein bißchen metallischer ausgerichtet sein", meint Nils, und Lisa fügt hinzu: "Ja, es wird härter." Deutlich ist das Bestreben von Band-Cheffe Marco Heubaum schon bei diesem Auftritt zu spüren, mehr in die metallische Richtung vorzustoßen - wohl nicht zuletzt, um endlich wegzukommen von den gebetsmühlenartig vorgebrachten Nightwish-Vergleichen, die er und seine Mitstreiter seit jeher über sich ergehen lassen müssen. Das nervt, verständlich. Dann, vor ein paar Tagen, kommt schon mal ein Stückchen Einlösung des Versprechens des Weges daher: die Single-Auskopplung "In Love With The Darkness" kracht ordentlich, ohne die Melodie zu vernachlässigen (siehe Review der Single). Durchaus gespannt darf man also sein, wenn sich die neue Scheibe India jetzt in voller Länge die Ehre gibt. In den ersten Momenten stehen noch orientalische Einsprengsel im Vordergrund, aber dann rumpelt der Titeltrack massiv los - großes Kino ist da angesagt: orchestral, episch, stampfend, teilweise mit Doublebass, schneidender Gitarre und schwebendem Gesang von Lisa, so steigen Marco und Freunde in ihr neues Werk ein. Ein ordentlicher Paukenschlag. Dabei versichert Marco in Interviews, sie wollen sich endlich befreien und als "Augenzwinkern" einen einzigen Song liefern, der wirklich absichtlich ein wenig nach finnischen Weisen klingt, und dann basta.
Dieses durchaus gewagte Vorhaben gelingt, denn in der Folge schlagen Xandria in der Tat immer wieder andere Töne an, liefern dadurch ein abwechslungsreiches, farbiges, spannendes Album ab, das zweifelsohne deutlich heftiger als Ravenheart zu Werke geht, aber natürlich nach wie vor von der Kombination aus opernhafter Stimme und metallischem Untergrund seine große Faszination zieht. Es finden sich extrem rockige, groovige Momente ("India", "Widescreen" - war auch schon auf der Single), aber als Akzente ragen daneben schöne Balladen ("Who We Are", "Dancer" mit eleganten klassischen Parts) und auch schlichtweg überraschende Stücke wie das Irish Folk-lastige "Like A Rose On The Grave Of Love" heraus, das von La Lisa Vocalistas Vorliebe für diese Stilrichtung zeugt (fehlen nur noch die rollenden r's von Shane MacGowan...). Die Melodien sind griffig, die Arrangements geschickt, und Lisas Gesang verleiht den passenden emotionalen Touch.
Im Gesamtgeschehen beeindruckt nicht nur die Variationsbreite, sondern auch der voluminöse Sound - anstelle der Elektronik, die die orchestralen Parts zu Ravenheart beisteuerte, griff die Truppe dieses Mal tiefer in die Tasche und auf die Künste des Babelsberger Filmorchesters zurück, was sich in einer deutlich bombastischeren Kulisse bezahlt macht. Alles in allem: sie haben die Ankündigung erfüllt, haben ein schönes, spürbar metallisch durchzogenes Gothic-Rock-Album abgeliefert. Was heißt: der Gast, der sich bei diesem Stil mit Grausen wendet und dafür die Wortschöpfung Träller-Elsen-Metal bemüht, den werden weder Xandria noch irgend jemand anders bekehren können. Aber wer mit elegischem Bombast und darüber thronendem Frauengesang etwas anfangen kann, der sollte mit Xandria die Segel setzen.
Diese Reise nach Indien hätte auch E.M. Forster gefallen. Und der verstand ja bekanntlich was von Stimmung und Atmosphäre.
Vorheriges Review: Camorristas - Unexpected Humanity... In The Year Of Zero Tolerance