Review
Within Temptation - Mother Earth
Lange hat es gedauert, bis das zweite Werk von Within Temptation endlich die Beachtung gefunden hat, die es verdient. Erstmals schon 2000 veröffentlicht, hatten die Holländer um Sharon den Adel ein Problem: noch kannte keiner Amy Lee. Klar waren sie in ihrer Heimat erfolgreich, in der Szene kannte man sie, aber so richtig zünden wollte die Sache nicht. In der mittlerweile sattsam bekannten Entwicklung, die das musikalische Pferd komplett von hinten aufzäumte – Evanescence nehmen bestehende Gothic-Elemente, polieren und glätten sie fürs MTV-Format, landen damit einen Megaseller, und pronto, plötzlich werden die eigentlichen Erfinder dieses Stils ebenfalls salonfähig – kamen dann aber auch endlich Within Temptation zu ihrem Recht. 2002 kletterte die Single Ice Queen an die Spitze der belgischen und holländischen Charts, und die Band machte auf diversen Festivals auf sich aufmerksam. 2003 erschien Mother Earth schließlich ein zweites Mal in einer Special Edition, die auf über 70 Minuten Spielzeit neben dem ursprünglichen Material auch Live-Versionen von Songs des ersten Albums Enter (1997) brachte. Auf der folgenden Tournee mußte man die Band zwecks des Ansturms in größere Hallen umbuchen – in München z.B. hätten sie das geplante New Backstage gesprengt, und die Georg-Elser-Hallen, in denen die Fete dann stieg, war ebenfalls proppenvoll.
Within Temptation gehören zu den Bands, die symphonischen Metal machen, also in der Tradition von My Dying Bride und Paradise Lost ihre Basis im Death Metal haben, diesen aber durch eine elegische Frauenstimme und orchestrale Einsprengsel veredeln. Anno 1997, zu Zeiten ihres ersten Albums, nannte man das Ganze in Ermangelung eines schicken Namens noch Doom Metal, aber spätestens seit dem Chartsturm von Nightwish läuft auch Within Temptation in der Presse unter der Flagge Gothic Metal. Selbst bezeichnen sie sich gerne lieber als bombastische Soundtrack-Musik mit schwermetallischen Zügen – eben wie Tuomas Holopainen auch das letzte Nightwish-Werk Once verstanden wissen möchte. Im Vergleich zu Evanescence, die gothische Elemente sparsam über einen schicken Nu-Metal-Teppich streuen, stehen sämtliche europäischen Gothic-Bands auf einem viel breiteren Stil-Untergrund. Schon die ersten Töne von Mother Earth beweisen das eindeutig: der Titelsong startet mit einer sphärischen keltischen Melodie. Aber gleich nach ein paar Takten wird schweres Orchester aufgefahren, treibende Rhythmen dominieren, die Gitarren gehen nie im choralen Begleitsturm unter, wobei klassische Instrumente immer mit von der Partie sind. Ganz bewusst setzt Sharon den Adel dabei stilisierte, engelhafte, theatralische Akzente in ihrem Gesang.
Nach der Hälfte gibt's eine Einlage in gregorianischem Choral zu bestaunen, bevor der Song mit Macht dem Ende zusteuert. Im besten Sinne erhebend: das Gefühl, das sich einstellt, ist in erster Linie episch, und genau das wollen die Holländer auch erreichen. Die einzelnen Stücke, vielleicht mal abgesehen vom Titellied "Mother Earth" und der hinreißenden "Ice Queen" (meiner Meinung nach einem der besten Gothic Songs überhaupt), sind allesamt keine Ex-und-hopp-Hits – dagegen spricht schon die Spieldauer, die locker mal die acht Minuten überschreitet. Zu tun hat man es vielmehr mit kleinen Dramen, die vor dem inneren Auge ablaufen. Highlights gibt es dabei viele, neben den erwähnten Songs etwa "The Promise", ein geniales Wechselspiel von preschenden Melodien, brachialen Riffs, opernhaftem Gesang und bombastischen Orchestereinlagen. Auch "Deceiver Of Fools" hat's mit Russenchören und Streichersätzen in sich. Genau das ist auch der Fortschritt seit dem Erstling: dominierte auf Enter noch der Death-Ursprung, bringen Within Temptation hier jetzt das ganz große Kino. Nach eigenen Worten wollen sie die Stimmung von Filmen wie Braveheart oder Sleepy Hollow erzeugen, und das tun sie nicht nur musikalisch, sondern auch optisch: Kostüme und Bühnenausstattung auf der Mother Earth Tour erinnern nicht umsonst an die Elfenstadt aus dem Herrn der Ringe. Aha, wieder mal - aber sie machen's gut, also dürfen sie das. Wenn man an diesem Album überhaupt etwas herummäkeln kann, dann sind es vielleicht die Momente, wo das Gefühl ein bißchen überhand nimmt und der Kitsch schon um die Ecke schielt ("Never-Ending Story" – merke: niemals einen Songtitel benutzen, den schon Limahl verhunzte! Das wird nix). Insgesamt aber setzen Within Temptation mit diesem Album Maßstäbe, die sie vom musikalischen Vermögen in nächste Nähe zu Nightwish stellen, auch wenn die Combo von Tuomas Holopainen metallischer zu Werke geht und damit derzeit kommerziell besser unterwegs ist.
Aber das ist eigentlich gut so, schließlich besetzen Within Temptation eine ganz eigene Nische – sie stehen für einen symphonischen, orchestralen, mit großer Geste inszenierten Metal, der Gothic-Jünger, Fantasy-Fans und Doomster gleichermaßen anspricht. Für das nächste Album kündigt Sharon den Adel eine klare Weiterentwicklung an, die mit noch größeren choralen Elementen arbeitet, dabei aber immer heavy bleibt. Wir sind gespannt.