Review
W.A.S.P. - The Neon God Part 1: The Rise / Part 2: The Demise
VÖ: 19. April 2004
Zeit: 52:06 / 46:37
Label: Noise Records
Homepage: www.waspnation.com
Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Nicht wenige. An Blackie scheiden sich nach wie vor die Geister. Nicht umsonst: immerhin ist er einer der ganz wenigen Figuren im Metal, die einen ureigenen Sound und Stil entwickelt haben, für den "love it or hate it" gilt. Entweder man kann mit ihm was anfangen oder nicht. Über die Jahre hat er sich aber klammheimlich weiterentwickelt. Vom Schock-Rocker der raubautzigen Anfangsalben, wo man ihn für Songs wie "Fuck Like A Beast" einfach liebhaben musste, war er ja schon bei The Headless Children weg, wo er – allerdings noch ziemlich ungezielt und sporadisch - seine Gedanken über das Leben, das Universum und den ganzen Rest äußerte. Seinen Kritikern haute er aber spätestens mit The Crimson Idol massiv auf den Schädel. Schließlich brachte er damit schlicht und einfach des beste Metal-Konzeptalbum neben Queenryches Geniestreich Operation: Mindcrime zustande.
Verpackt in eine Story, die ziemlich deutlich von Pink Floyd (The Wall) und The Who (Tommy) beeinflusst war, sang er da über einen Musiker namens Jonathan, der von seinem falschen Freund Chainsaw Charlie in die Fänge der Musikindustrie getrieben und schließlich von ihr aufgefressen wird. Das Thema des Musikers, der von der bösen Industrie zerstört wird, ist an sich nicht spannend und sowieso auch nicht das eigentliche Herz des Albums. Viel interessanter ist die Herkunft von Jonathan: er ist der ungeliebte, der verlorene Sohn, das unsichtbare Kind, das von seinen Eltern verstoßen nur auf der Suche nach Anerkennung und Liebe ist.
Diese Frage nach der Identität, nach dem Sinn in einer verdrehten Welt und die verlockende Kraft falscher Götter beschäftigt Blackie wohl immer noch, denn um genau diese Fragen dreht sich auch das neue Konzeptwerk The Neon God. Nachdem er die etwas simpleren Tugenden austobte (Helldorado), robbte sich Blackie schon mit Dying For The World wieder in die thematisch anspruchsvolleren Regionen vor. Rein inhaltlich, so meint er selbst, stellt The Neon God jetzt einen Riesenschritt dar: wenn The Crimson Idol eine Short Story war, dann ist The Neon God jetzt sein Krieg und Frieden, meint er.
Mengentechnisch stimmt das schon mal - gleich zwei Alben bringt uns Blackie hier, Part 1: The Rise und Part 2: The Demise. Oha. Nix mehr "All I Need Is My Love Machine" - nein, hier gibt es Aufstieg und Fall, archetypisch geht es also zu, ganz wie ein Moralitätenspiel oder ein Shakespeare-Stück. Jonathan fragte sich noch, wie weiland König Lear, "Who Am I?". Seine Musikerkarriere ist letztendlich nur eine Suche nach Liebe, die er natürlich nicht bekommt: "Where's The Love To Shelter Me?", so lautet das Hauptleitmotiv von The Crimson Idol. Der Hauptdarsteller von The Neon God, Jesse Slane, geht in seinem Fragen weit darüber hinaus, bis hin an die Existenz selbst - "Oh Tell Me My Lord, Why Am I Here?", so geht es los und zieht sich komplett durch das Gesamtwerk.
Das Thema des verstoßenen Kindes findet sich auch hier: Jesse wird in Teil Eins von seiner religiös fanatischen Mutter Mary (aha!), die ihn im Drogenrausch für den leibhaftigen Satan hält, den Sisters Of Mercy (dem Orden, nicht der Band) übergeben und gerät im Waisenhaus an die sadistische Schwester Sadie (Sister Sadie - S.S. - woasd scho!), die ihn fürs Leben ruiniert. Den falschen Freund bringt Blackie auch hier wieder, dieses Mal ist es Judah Magic, mit dem Jesse nach dem Entkommen aus dem Waisenhaus eine Sekte gründet, die ihn am Ende von Teil Eins als ihren neuen Gott verehrt: den Neon God, den Messias für das Medienzeitalter. Zum Schluss von The Rise fragt sich Jesse, ob er nun wirklich ein Gott ist oder nur ein Scharlatan - aber die Massen lieben ihn, und nur darauf kommt es ihm wie seinem Vorläufer Jonathan an.
Um es gleich klar zu sagen: ganz an The Crimson Idol kommt Blackie nicht heran. Aber zweifellos ist Teil Eins seine beste musikalische Leistung seit diesem Meisterstück. Die Idee des Konzeptalbums an sich verbietet schon ein simples Hitfeuerwerk mit 3-Minuten-Nummern - hier gibt es eher eine Untermalung der Themen, einen atmosphärischen Soundtrack. Der allerdings rockt wie Sau. Vom Anfang weg, wo Blackie, wie sich das für ein anständiges Konzeptalbum gehört, in einer Overtüre alle wichtigen musikalischen Elemente einmal anreißt, donnern die Drums, sägen die Gitarren und jammert Herr Lawless in höchsten Höhen, dass eine helle Freude ist. Neben stimmungsvollen Kurzstücken, die in erster Linie die Story voranbringen - "Why Am I Nothing", "The Rise", "Someone To Love Me" - finden sich zahlreiche Songs, die massiv abgehen und das Zeug zu Klassikern haben. Allen voran "Sister Sadie And The Black Habits", das vom gleichen Format wie "Chainsaw Charlie" ist, und "Asylum #9", mit seinem Dampfhammer-Drive für mich klar das Highlight der Scheibe. Man durfte nach The Rise also gespannt sein auf Teil Zwei, der jetzt in den Regalen steht.
Jesse ist hier nun angekommen auf dem Höhepunkt seines Ruhms, wird von den Massen verehrt - "Fall Before Me And Bring Me Love", predigt er in "Resurrector". Ganz nebenbei macht er für Judah ein Vermögen; der Kult darf also nicht sterben ("Never Say Die"), im Notfall muss Jesse beseitigt werden. Bei einem seiner Events trifft er plötzlich die eine Person, die ihn überhaupt erst auf seine alptraumhafte Reise geschickt hat: seine Mutter. Diese traumatische Begegnung wiederholt das Schlüsselereignis von The Crimson Idol - ebenfalls auf der Höhe seines Erfolgs ruft Jonathan seine Mutter an, die ihm allerdings nur zu verstehen gibt, dass sie keinen Sohn mehr hat. Erst diese Zurückweisung löst seinen Selbstmord aus, der die Story beschließt. Hier liegt die Sache ein wenig anders: Jesse kann seine Mutter, die ihn als ihren Sohn und Messias vereinnahmen möchte, nicht mehr akzeptieren, er hasst sie, weil sie ihm seinen Frieden ein zweites Mal zerstört hat. Er ist längst eine leere Hülle, wie Alex von den Dukes aus Kubricks Zukunftshorror - "If There's A Smile You See, It's Only The Clockwork Orange That's In Me", sagt er zu seiner Mutter. Diese Begegnung bedeutet aber auch hier die Wende: sie zeigt ihm, dass er kein Gott, sondern nur ein Betrüger ist - worauf Judah beschliesst, einen Märtyrer aus ihm zu machen, um den Kult weiterzuführen. "Don't Die For Me, You're All Deceived For Love", ruft Jesse seinen Jüngern noch die Wahrheit zu. Das Ende bleibt offen.
Im Booklet zu Teil Zwei macht Blackie klar, dass er mit Jesse nicht eine Person oder vielleicht nur sich selbst meint, wie das bei The Crimson Idol sicherlich der Fall war. Hier geht es ihm um die Menschheit allgemein, die Suche nach Sinn und die Gefahr von verführerischen falschen Heiligen: "Jesse serves as a symbol of mankind in that he IS mankind, trying to make sense of his life and ultimately search for redemption". Das bringt uns dann wieder zurück zum Rise und Demise, Aufstieg und Fall, denn den hat ja im bekanntesten Moralitätenstück überhaupt ja schließlich auch "Jedermann" erlebt.
Dreh- und Angelpunkt des ganzen Werks sind zwei Leitmotive, auf die Blackie immer wieder zurückkomt, inhaltlich und musikalisch: "Take Me, Change Me, Love Me" und "Why Am I Here?". Die Sinnfrage, so darf man das wohl verstehen, kann und soll jeder für sich stellen, dabei aber nicht auf simple Patentlösungen und schon gar nicht auf vorgefertigte Heilsrezepte setzen. Auch deutet sich hier ein Einfluss an, der schon in Teil Eins beginnt. Bei "Red Room Of The Rising Sun" frönt Blackie einem leicht psychedelischen Ausflug, der nicht nur inhaltlich motiviert ist: wie schon bei The Crimson Idol stand auch hier unverkennbar Pete Townsend Pate.
Die Verwandtschaft zu Townsends Schöpfung Tommy und dessen Leitmotiv "Heal Me" schlägt sich in Teil Zwei zunehmend in Keyboard-Einsätzen und Stakkato-Rhythmen nieder. Auch Tommy hat viele falsche Freunde, die ihm letztendlich nicht weiterhelfen können. Wobei Blackie sein Werk nicht als Atheismus-Traktat verstanden haben will: "I do believe in God", sagt er im Booklet. Vorsicht ist nur bei selbsternannten Erlösern und Führern geboten.
Aber noch mal zurück zur Musik. Es dauert ein wenig länger, bis man sich mit Part Two anfreunden kann, es fehlt die sofort mitreißende Kraft, auch wenn wir uns immer noch auf hohem Qualitätsniveau bewegen. Leitmotive sind ja schön und gut, aber ein wenig übertreibt es Blackie hier dann doch mit den Zitaten und Wiederholungen, so dass man sich manchmal des Eindrucks nicht ganz erwehren kann, dass ihm gegen Ende ein kleines bißchen der kreative Saft ausgegangen ist. Oder hat er seinen eigenen Inhalt nicht mehr stemmen können? Aber dank herausragender Momente wie "Come Back To Black" und "Clockwork Mary" liefert auch Teil Zwei noch mal ganz großes Kino ab, bei dem kein Auge trocken bleibt. So steht am Ende, wenn man alles zusammennimmt, ein bombastischer Eindruck vom Gesamtwerk, auch wenn Part Two ein wenig abfällt.
Was bleibt, ist ein mehr als würdiger Nachfolger zu The Crimson Idol. Inhaltlich ist The Neon God in der Tat um einiges komplexer gesponnen, auch wenn die Symbole manchmal etwas grob daherkommen (Jesse, Judah, Sister Sadie, Mother Mary, da fehlt nur noch der Weihnachtsmann) - aber eine wahre Dichterseele hätten wir hinter Blackie eh nicht vermutet. Musikalisch ist The Neon God sicherlich nicht ganz so genial wie The Crimson Idol, aber immer noch um Längen besser als vieles andere, was man so unter die Finger bekommt. Fazit: definitiv einer der metallischen Höhepunkte in diesem Jahr!
Und übrigens bleibe ich bei meiner Theorie, dass Xena-Darstellerin Lucy Lawless die lange verschollene Schwester von Blackie ist.